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Pre-empathische Zusammenarbeit als Future Skill

Dieser Text erschien hier  in Das Kuratierte Dossier (Band 6) (2024) der Gesellschaft für Wissensmanagement.


Kaum eine Auflistung, kaum ein Framework, kaum ein Modell von Future Skills kommt ohne die Betonung von Zusammenarbeit oder Kollaboration aus. Ausgangspunkte solcher Überlegungen sind meist die Veränderungen durch digitale Transformation, bisweilen vereinfacht im Hinblick auf den Erwerb bestimmter Qualifikationen für Techniken und Werkzeuge. Dabei bleibt häufig eine Leerstelle bei der Frage, was sich auf der grundsätzlichen Ebene für Zusammenarbeit ändert (und was wir zum Thema bisher als zu „selbst-verändlich“ erachtet haben und nun im Veränderungsprozess besser zu verstehen lernen).

zwei Personen blicken sich an; eine heißt „Ich“, eine heißt „mein Gegenüber“ – beides erscheint in einer Gedankenblase, die Zukunft suggeriert]

Für ein grundsätzliches Verständnis von Zusammenarbeit als Future Skill braucht es mehr als Techniken und Tools auf der einen Seite sowie prinzipielle Aufrufe zu einer „Kultur der Zusammenarbeit“ oder einer „Kultur des Teilens“ auf der anderen Seite. Dazwischen liegt ein großer Bereich von Prinzipien und Praktiken für die Zusammenarbeit, den wir uns neu erschließen müssen. Diese Erschließung nenne ich „Zusammenarbeit 4.0“ und (m)einen Schlüsselbegriff für ihre Ausgestaltung nenne ich „Pre-Empathie“.

Zusammenarbeit als Future Skill

Es ist keine bahnbrechend neue Erkenntnis, dass Zusammenarbeit zu den grundlegenden Skills für Arbeiten, Lernen und Leben gehört. Von „Future Skill“ mag man hier kaum sprechen, denn es geht ja um die Gegenwart – und das nicht erst seit heute. So steht „Collaboration“ als eine von vier Säulen (“the Four Cs“) im Mittelpunkt der 21st Century Skills, wie sie ab ca. 2002 als relevant für das Jahrhundert erklärt wurden, das damals gerade begonnen hatte – inzwischen aber schon bald zu einem Viertel vorbei ist.

Seitdem sind viele neue Modelle, Frameworks und Listen von Future Skills entstanden, die Zusammenarbeit mal größer, mal kleiner, mal allgemein, mal spezifisch zugeschnitten beinhalten. Häufig wird Zusammenarbeit konkreter spezifiziert. Einige Beispiele: Das Future-Skills-Framework von Stifterverband und McKinsey (2018) sieht Kollaboration als meist-gefragte „digitale Schlüsselqualifikation“ für die Arbeitswelt. Das UNESCO-Institut IESALC definiert für den Bereich Higher Education eine Reihe von „Skills to address the global transitions“ und ordnet Collaboration dabei einer Kategorie namens „Skills for Social Change“ zu. Die Kultusministerkonferenz in Deutschland sieht in „Kommunizieren und Kooperieren“ einen von sechs Bereichen von „Kompetenzen in der digitalen Welt“ für Schüler*innen (2016/17). Fünf Jahre später beschließt die KMK eine Ergänzung „Lehren und Lernen in der digitalen Welt“, in der es vor allem um die Veränderungen für Lehrkräfte und Schulen geht – und in der auf 33 Seiten insgesamt 29 mal von „Zusammenarbeit“ und „Kollaboration“ die Rede ist und die „Etablierung einer ‘Kultur des Teilens’“ explizit als Teil von pädagogischer Professionalität definiert wird (2021).

Handwerk der Zusammenarbeit

So verbreitet die grundsätzliche Rede von Zusammenarbeit als Future Skill und der prinzipielle Appell zu einer „Kultur des Teilens“ ist, so auffällig sind die Leerstellen, was die konkrete Umsetzung angeht. Eine „Kultur des Teilens“ ist leicht gefordert, aber für die die tatsächliche Etablierung braucht es auch ein „Handwerk des Teilens“.

Unter den Vorzeichen von Digitalisierung und Vernetzung funktioniert Zusammenarbeit anders, vor allem weil ihre Fundamente sich durch die Verdichtung von Raum und Zeit verschieben. In vielen Dimensionen, die früher durch Mangel charakterisiert waren, muss heute Überfluss als Paradigma gelten. Deswegen braucht es eine gleichzeitig grundsätzliche und konkrete Neudefinition von 1. Grundbegriffen, 2. Prinzipien und 3. Praktiken von Zusammenarbeit.

Wie so oft, wenn wir durch neue Voraussetzungen bisherige Selbstverständlichen hinterfragen, bemerken wir dabei schrittweise, dass „selbstverständlich“ nicht gleichbedeutend ist mit „das haben wir sehr gut verstanden und durchdrungen“. Wir lernen durch die Umbrüche zum Neuen auch immer, das Alte besser zu verstehen.

Diese Auseinandersetzung mit der Transformation von Kollaboration nenne ich „Zusammenarbeit 4.0“; den Schlüsselbegriff nenne ich „Pre-Empathie“. Es folgen einige grundlegende Überlegungen, die ich 2024 in einem Buch weiter ausarbeiten werde. Ich schreibe in der Ich-Form, nicht weil ich meine Person als kritische Komponente dieser Darstellungen sehe. Es geht mir vielmehr darum, den falschen Eindruck zu vermeiden, es handele sich bei Pre-Empathie um ein akademisch-abgesichertes bzw. forschend-erprobtes Konzept. Das Gegenteil ist der Fall. Ich habe das Konzept aus meinen subjektiven Erfahrungen und Überlegungen entwickelt. Der Prüfprozess, ob bzw. wie bzw. inwieweit das Konzept größere Gültigkeit beanspruchen kann, hat gerade erst begonnen.

Zusammenarbeit 4.0, Pre-Empathie – warum neue Begriffe?

Industrie 4.0 und Arbeiten 4.0, vernetztes Arbeiten und digitales Arbeiten, vielleicht auch noch New Work, auf jeden Fall aber agiles Arbeiten, neuerdings auch asynchrones Arbeiten … Es mangelt nicht an schrillen und lauten Leitbegriffen, Verheißungen und Verkündungen davon, dass sich unser Thema Zusammenarbeit grundlegend ändert. Warum braucht es noch mehr davon und mit Pre-Empathie noch ein weiteres neues Schlagwort (das sich dazu auch noch recht sperrig anhört)?

Die Idee von pre-empathischer Zusammenarbeit möchte dort ansetzen, wo die allermeisten Pamphlete und Keynotes enden – nämlich dort, wo es konkret und praktisch wird. Der schwierige Teil beim neuen Arbeiten liegt weder in der Ausrufung neuer Paradigmen noch in der Qualifikation, neue Tools bedienen zu können. Natürlich braucht es beides. Aber erst danach wird es richtig spannend. Solange Zusammenarbeit so organisiert ist wie in prä-digitalen Zeiten, ändert sich nur die Oberfläche. Der wirkliche Unterschied zwischen einem Officepaket auf meiner Festplatte und einem Officepaket in der Cloud sind nicht ein paar schicke neue Funktionen oder der Umstand, dass ich meine Dokumente vom Schreibtisch-Computer genau wie vom Smartphone nutzen kann. Es sind die Folgen, die sich aus den neuen technischen Möglichkeiten ergeben. Es macht einen Unterschied, wenn ein Dokument nicht mehr „mir gehört“, sondern in der gemeinsamen Verantwortung von mir und meinen Kolleginnen liegt. Es macht einen Unterschied, dass eine To-do-Liste jetzt auch in der U-Bahn oder auf der Toilette verfügbar ist. Es macht einen größeren Unterschied, dass eine Kollegin etwas auf meine To-do-Liste schreiben kann und ich ihr eine Frage auf ihrer To-do-Liste stellen kann. Es macht einen Unterschied, wenn ich Inhalte nicht mehr über Ordner und Laufwerke sortiere, sondern über Suchfunktionen und Verlinkungen finde.

Für solche Fragen des neuen Arbeitens reicht es nicht aus, sich die Anleitungen der Hersteller und die Erklärvideos von Trainerinnen anzuschauen. Wir Menschen haben im neuen Zusammenarbeiten – gerade weil es so grundsätzliche Neuerungen sind – wenig Erfahrungen, wenig Know-How und wenig Übung. Die Grundidee von pre-empathischer Zusammenarbeit ist eine von unterschiedlichen möglichen Zugriffen auf das Thema.

Die Grundidee von Pre-Empathie

Die Idee von Pre-Empathie meint: Ich muss nach-empfinden bzw. nach-denken, was mein Gegenüber in unserer Zusammenarbeit denken und tun wird. Und zwar möglichst schon, bevor er etwas tut, damit ich meine Arbeit mit seiner Arbeit abgleichen kann – die Grundlage für gelingende Zusammenarbeit. Ich muss also quasi den nächsten Arbeitsschritt meines Gegenübers vor-empfinden und vor-denken.

zwei Personen blicken sich an; eine heißt „Ich“, eine heißt „mein Gegenüber“
Schritt 1 „Empathie“ heißt: Ich denke in der Zusammenarbeit nicht nur an mich, sondern auch an mein Gegenüber.
Die Figur „Ich“ denkt an die Zukunft.
Schritt 2: „Pre-“ heißt: Ich denke in der Zusammenarbeit nicht nur an den aktuellen Arbeitsschritt, sondern auch an den nächsten Arbeitsschritt in der Zukunft.
zwei Personen blicken sich an; eine heißt „Ich“, eine heißt „mein Gegenüber“ – beides erscheint in einer Gedankenblase, die Zukunft suggeriert
Schritt 3: „Pre-Empathie“ heißt: Ich denke in der Zusammenarbeit nicht nur an mich, sondern auch an mein Gegenüber beim nächsten Arbeitsschritt.

Das ist nicht komplett neu, wird aber immer wichtiger. Woher kommt das? Wohin führt das? 

  1. Zusammenarbeit ist zentral für erfolgreiches Arbeiten in der Zukunft Gegenwart. 
  2. Digital-vernetzte Medien verändern unser Zusammenarbeiten radikal – und wir stehen erst am Anfang des Umbruchs.
  3. Wir haben digital-vernetzte Zusammenarbeit nie systematisch erlernt. Wir lernen während der Arbeit, häufig über Versuch und Irrtum.
  4. Die bisherigen Ausbildungen, Trainings, Bücher und Websites zur digitalen Zusammenarbeit verfolgen einen unzureichenden Ansatz: Sie fokussieren entweder auf Technik und die Bedienung von Tools („Microsoft 365!“) oder die Verkündung von neuen Paradigmen („Arbeiten 4.0!“). Dazwischen klafft eine große Lücke im Hinblick auf Prinzipien und Praktiken für die tägliche Arbeit.
  5. Verbreitete methodische Ansätze zur Organisation der eigenen Arbeit, wie z.B. Getting Things Done, stellen einen isolierten Menschen an den Ausgangspunkt. Dessen Arbeit hat zwar Schnittstellen zur Arbeit anderer – aber diese Stellen markieren in diesen Ansätzen die Grenzen der Überlegungen. Pre-empathische Zusammenarbeit geht über die Grenzen hinaus und fokussiert genau auf diese Schnittstellen und Schnittmengen von Zusammenarbeit. In einer hochgradig vernetzten und arbeitsteiligen Arbeitsumgebung braucht es Bewusstsein, Konzepte, Standards und Praxismethoden dafür, wie die Zusammenarbeit bewusst gestaltet wird.

Pre-empathische Zusammenarbeit schaut auf Kooperation und Kollaboration, Kommunikation und Koordination – also die Schnittmengen und Schnittstellen von Zusammenarbeit. Die bewusste Gestaltung dieser vier Ko-Wörter hat handfeste Folgen: Die Zusammenarbeit wird einfacher und klarer. Bei uns im Team kann ich das ganz konkret beschreiben: Es gibt weniger Mails, weniger Besprechungen, weniger Unklarheit, weniger liegengebliebene Aufgaben, weniger Fehler, weniger Stress, weniger Frustration. Dafür entsteht Raum für mehr Kreativität, mehr Synergie und mehr Effizienz. Kurz gesagt: Wir können mehr Energie in „die eigentliche Arbeit“ stecken.

Der grundlegende Begriff: Was heißt „Pre-Empathie“?

Der zentrale Begriff meiner Überlegungen ist das Prinzip der „Pre-Empathie“. Ich habe den Begriff erfunden, weil ich keinen Begriff gefunden habe, der genau das beschreibt, worum es mir geht. In den folgenden Absätzen erläutere ich, was ich mit Pre-Empathie meine, wieso der Begriff nicht optimal ist und welche anderen Begriffe ich trotzdem verworfen habe. Ich baue den Begriff mit einer Schritt-für-Schritt-Erklärung auf.

Schritt 1: Empathie

Ausgangsbasis ist der Begriff „Empathie“, über dessen Entstehung wir erstaunlich wenig wissen. Ich erspare uns an dieser Stelle eine Aufarbeitung der wissenschaftlichen Erkenntnisse, die im Wikipedia-Artikel zu „Empathie“ gut dokumentiert sind. Die dort verwendete Definition lautete am 5.12.2023: „Empathie bezeichnet die Fähigkeit und Bereitschaft, Empfindungen, Emotionen, Gedanken, Motive und Persönlichkeitsmerkmale einer anderen Person zu erkennen, zu verstehen und nachzuempfinden.“

Zu Empathie gehören also mindestens zwei Beteiligte: eine Person, die empathisch wahrnimmt und als Gegenüber eine Person, die wahrgenommen wird. Das kann auf Gegenseitigkeit beruhen, muss es aber nicht. Für meine Überlegungen reicht es aus, dass wir uns eine empathische Person und als Gegenüber eine empathisierte Person vor Augen halten.

Schritt 2: Kognitive Empathie, mentale Empathie

Alltagssprachlich setzen wir „Empathie“ oft in die Nähe von „Mitgefühl“ oder „Einfühlungsvermögen“. Die Ebene des „Fühlens“ ist deutlich zu erkennen. Dabei kommt die sogenannte „kognitive Empathie“ zu kurz, in Wikipedia definiert als: „die Fähigkeit, nicht nur Gefühle, sondern auch Gedanken und Absichten anderer Menschen zu verstehen“. Empathie bezieht sich also beim Gegenüber nicht nur auf die emotionale, sondern auch auf die mentale Ebene. Die Grundidee: Eine Person übernimmt innerlich die Perspektive des Gegenübers.

In einigen Definitionen von „kognitiver Empathie“ wird nur eine der zwei beteiligten Personen auf der kognitiven Ebene und das Gegenüber auf der emotionalen Ebene verortet. Vereinfacht gesagt: Die empathische Person nimmt mental wahr, was ihr Gegenüber fühlt. Dafür muss sie nicht mit-fühlen. In meinen Überlegungen gehe ich von der kognitiv-mentalen Ebene auf beiden Seiten aus. Es geht nicht um Gefühle, weder bei der empathischen Person noch bei der empathisierten Person. (Wenn ich sage, dass ich nicht von der emotionalen Ebene ausgehe, dann will ich damit nicht sagen, dass diese Ebene nicht vorhanden oder nicht relevant sei. Ich nehme diese Ebene nur nicht als Ausgangspunkt.) Ein einfaches Beispiel: Jemand schreibt mir eine E-Mail mit der Anrede: „Sehr geehrter Herr Jöran“. Ich denke mir dazu, dass diese Person denkt, Jöran sei mein Nachname.

Der Begriff „kognitive Empathie“ würde gut dazu passen – er ist aber von der Wissenschaft schon in einer Weise besetzt, wie sie nicht zu meinen Überlegungen passt. Eine Alternative ist der Begriff „mentale Empathie“, gedacht im Sinne von: „Ich kann in Gedanken nachvollziehen, was mein Gegenüber denkt.“ oder „Ich kann in Gedanken die Perspektive meines Gegenübers übernehmen.“

Dabei weiß ich, dass ich nicht sicher sein kann. Ich kann ja nicht in den Kopf meines Gegenübers hineinsehen. Ich habe Indizien, die ich interpretiere. Insofern müsste die Definition eigentlich heißen: „Mentale Empathie meint begründetes Raten, was mein Gegenüber denkt.“

Hierzu lassen sich verschiedene Beispiele anführen:

  • Die Verkäuferin auf dem Flohmarkt verlangt 5 Euro von mir. Ich denke, dass sie zunächst einen höheren Preis angesetzt hat und das noch nicht ihr letztes Wort sein muss.
  • Der Autofahrer, der mir nachts auf der Gegenfahrbahn entgegenkommt, betätigt mehrmals die Lichthupe. Ich rate, dass er mich darauf hinweisen will, dass ich mein Licht anschalten sollte.
  • Die Bewerberin antwortet „gar kein Problem“, nachdem ich sie um eine Verschiebung des Termins für das Bewerbungsgespräch gebeten habe. Ich unterstelle ihr, dass sie mir auch dann keine andere Antwort gegeben hätte, wenn die Verschiebung für sie ein mittelgroßes Problem wäre.

Schritt 3: Mentale Pre-Empathie

Im nächsten Schritt ändere ich die zeitliche Rangfolge zwischen der empathischen und der empathisierten Person. Ich drehe quasi das Vorher und das Nachher um.

  • Empathie: Ich interpretiere etwas, was bei meinem Gegenüber bereits passiert (ist). Ich kann es „nach-empfinden“ oder „nach-vollziehen“.
  • Pre-Empathie: Ich interpretiere etwas, was bei meinem Gegenüber passieren wird. Ich kann es „ vor-empfinden“ oder „vor-denken“.

Nehmen wir noch einmal die Beispiele von oben und denken sie in die Zukunft weiter:

  • Ich habe die E-Mail mit „Sehr geehrter Herr Jöran“ bekommen. Ich gehe davon aus, dass es nicht notwendig ist, dass ich das Missverständnis explizit thematisiere. Denn ich nehme an, dass die Person erkennen wird, dass Jöran mein Vorname ist, nachdem ich meine Antwort mit der Unterschrift „Jöran Muuß-Merholz“ geschickt haben werde.
  • Die Verkäuferin auf dem Flohmarkt verlangt fünf Euro von mir, obwohl sie eigentlich auch mit einem Euro zufrieden wäre. Denn sie geht davon aus, dass ich noch handeln werde.
  • Der Autofahrer, der mir nachts auf der Straße entgegenkommt, betätigt mehrmals die Lichthupe. Denn er geht davon aus, dass ich das als Signal verstehen werde, mein Licht anzuschalten.
  • Die Bewerberin antwortet mit „kein Problem“ zur Verschiebung des Bewerbungsgesprächs. Denn sie unterstellt mir, dass ich eine wahrhaftige Antwort („Das wäre schon ein mittelgroßes Problem.“) als mangelndes Engagement missinterpretieren würde.

Die Beispiele zeigen, dass es um selbstverständliche Teile unseres alltäglichen Denkens geht. Mentale Pre-Empathie ist quasi ein „Vor-Denken“, bei dem ich mich in das zukünftige Denken meines Gegenübers hineinversetze. Eine Definition könnte lauten: Ich versuche in Gedanken vorwegzunehmen, was mein Gegenüber denken/tun wird. Bzw. genauer gesagt: Ich versuche begründet zu raten, was mein Gegenüber denken oder tun wird. Weniger umgangssprachlich: Mentale Pre-Empathie bezeichnet den Versuch der Perspektivübernahme meines Gegenübers in Bezug auf sein zukünftiges Denken und/oder Handeln.

In diesen Überlegungen geht es um Arbeit und Zusammenarbeit. In diesem Kontext kann eine vorläufige Definition wie folgt lauten: (Mentale) Pre-Empathie besteht darin, dass ich bei einem Arbeitsschritt in Gedanken vorwegnehme, was eine mit mir zusammenarbeitende Person beim nächsten Arbeitsschritt denken und/oder tun wird.

Schritt 4: Mentale Pre-Empathie

Mit dem vorherigen Schritt sind wir bei dem Begriff „mentale Pre-Empathie“ angekommen. Dieser Begriffe macht sprachlich wenig Freude. Zur Vereinfachung spreche ich einfach nur von „Pre-Empathie“. Damit ist immer die mentale Ebene gemeint, auch wenn es nicht explizit dabei steht.

Schritt 5: Andere Begriffe und warum sie auch nicht besser sind

„Pre-Empathie“ ist als Begriff aus drei Gründen nicht frei von Problemen. Er enthält einen Rechtschreibfehler. Er ist nicht selbsterklärend. Und er schließt nicht an existierende wissenschaftliche Überlegungen an, die beispielsweise schon verschiedene Formen von Empathie beschreiben. Ich habe mich dennoch für Pre-Empathie entschieden, quasi als kleinstes Übel.

Die folgende Liste sammelt Begriffe, die ich als Alternativen zu Pre-Empathie geprüft habe. Keiner ist in meinen Augen besser geeignet als Pre-Empathie. Man kann die Liste also beim Lesen überspringen. Wer sie dennoch lesen mag, kann über die begrifflichen Abgrenzungen noch etwas über die Feinheiten meines Verständnisses des Konzeptes lernen.

  • Theory of Mind (ToM) ist ein psychologisches Konzept, das sehr gut zu meinen Überlegungen passt. Eine Definition lautet: „Theory of Mind ist der Versuch, zu verstehen, was Andere denken, wissen, glauben, wollen, planen oder mögen. Theory of Mind bezeichnet also den Prozess, die mentalen Zustände Anderer zu erschließen und über diese nachzudenken“ (S. 11 aus dem sehr hilfreichen Büchlein Theory of Mind von Anne Böckler-Raettig). „Diese Sicht auf die Sicht des Anderen spielt für erfolgreiche Koordination, Kommunikation und Kooperationen eine zentrale Rolle“ (ebd. S. 7). Ich nutze den Begriff nicht, weil er nicht deckungsgleich mit meinen Überlegungen ist. Mit Pre-Empathie fokussiere ich die Ausrichtung auf die Zukunft, und das tut Theory of Mind nicht. Wenn man es inhaltlich ganz genau nimmt, müsste mein Begriff eigentlich nicht „Pre-Empathie“, sondern „Pre-Theory of Mind (Pre-ToM)“ oder „Theory of Pre-Mind“ lauten. Ich habe mich dennoch für „Pre-Empathie“ entschieden, weil der Begriff intuitiver zugänglich ist.
  • Kognitive Empathie ist in der wissenschaftlichen Literatur schon besetzt. Der Begriff verortet die mentale Ebene vor allem auf Seiten der empathischen Person und fokussiert beim Gegenüber (auch) auf die affektive/emotionale Ebene. Vereinfacht gesagt: Eine Person denkt über das, was die andere Person fühlt.
  • Präventive Empathie oder vorsorgende Empathie klingt so, als müsste etwas Schlimmes verhindert werden. Es geht zwar in meinen Überlegungen darum, dass die Zusammenarbeit besser und nicht schlechter wird. Aber die Rede von Prävention und Vorsorge ist mir zu defensiv.
  • Futur II-Empathie: Als Denkmodell ist die Aufteilung in eine Zukunft und einen Moment zwischen Gegenwart und dieser Zukunft hilfreich. Die Frage der Pre-Empathie lautet ja: Was muss ich in naher Zukunft tun, um das Handeln meines Gegenübers in fernerer Zukunft vorzubereiten? (Die „nahe“ Zukunft kann dabei auch „in 1 Sekunde“ bedeuten. Und die „fernere“ Zukunft kann auch „in 1 Minute“ bedeuten. Es kommt nicht auf die absoluten Zeitabstände, sondern nur auf die Reihenfolge an.) Grammatikalisch ist die Pre-Empathie mit Futur II korrekt beschrieben. Aber als Metapher ist mir Futur II zu gestelzt und zu häufig benutzt worden.
  • Co-Empathie gefällt mir als Begriff eigentlich gut, weil er die Ebene der Zusammenarbeit in sich trägt. Allerdings schwingt in Co-Empathie eine Gleichzeitigkeit mit, sodass die zeitliche Abfolge verloren geht.
  • Hellsehen und Gedankenlesen klingt zunächst eher nach einem albernen Witz als nach einer ernsthaften Begrifflichkeit. Allerdings gibt das Wortpaar tatsächlich drei wesentliche Aspekte von Pre-Empathie wieder: 1. Es geht um ein Gegenüber. 2. Es geht um die Zukunft. 3. Es geht nicht um sicheres Wissen, sondern um Annahmen. Dennoch wecken Hellsehen und Gedankenlesen falsche Assoziationen von Unseriösität und Übersinnlichkeit.
  • In französischsprachiger Literatur findet man den Begriff „pré-empathie“ in den Kognitionswissenschaften. Hier ist allerdings eine Entwicklungsstufe des jungen Kindes gemeint, das pre- oder vor-empathisches Verhalten entwickelt, bevor es „richtige“ Empathie beherrscht. Darum geht es hier nicht.
  • „Prä-Empathie“ wäre die richtige Schreibweise für das Präfix im Deutschen. „Pre-Empathie“ ist also eigentlich falsch. Die Namensfindung begann mit einer Recherche in englischsprachiger Literatur, sodass irgendwann mal „pre-empathy“ auf meinem Zettel stand. Das wurde dann nur halb eingedeutscht zu „Pre-Empathie“.

Weiterführende Überlegungen

Aufbauend auf diese Überlegungen stehen für mich im nächsten Schritt die Darstellung von Prinzipien und Praktiken für Zusammenarbeit 4.0 an. Mit „Prinzipien“ meine ich Grundlagen, Richtlinien und Konzepte, die auf verschiedene Kontexte angewandt werden können. Mit „Praktiken“ meine ich Handlungsmethoden, Standards und Hacks. Zusammengenommen kann daraus ein Entwurf für ein „Handwerk der Zusammenarbeit 4.0“ enstehen, das einen Beitrag dazu liefern kann, die große Lücke zwischen grundsätzlichen Appellen und tool-orientierten Anleitungen zu schließen.


Hier geht’s zum original Beitrag aus „Das Kuratierte Dossier“ der Gesellschaft für Wissensmanagement.